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Ende der 1960er Jahre revoltieren junge Menschen gegen ihre Eltern. Sie wollen weg - aus der Enge der Bundesrepublik in die große weite Welt. Am liebsten mit einem Bulli. Und dieser hier hat einiges gesehen von der Welt.Rosenplänter: Hallo und herzlich willkommen. Meike Rosenplänter ist mein Name und ich begrüße Euch zur ersten Folge vom Podcast der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Ja, okay, der Name ist lang, aber was dahintersteckt, ist einfach erklärt: Zur Stiftung gehören nämlich vier Museen: eins ist in Bonn – das Haus der Geschichte –, eins ist in Leipzig – das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig – und zwei sind in Berlin, nämlich das Museum in der Kulturbrauerei und der Tränenpalast. Und jedes dieser vier Museen beschäftigt sich mit einem anderen Teilaspekt der Deutsch-Deutschen Geschichte nach 1945. Jetzt gibt es also auch noch einen Podcast und in diesem Podcast wollen wir Euch regelmäßig Ausstellungsstücke vorstellen, die irgendeine besondere Bedeutung haben – entweder für die deutsch-deutsche Geschichte oder für unser alltägliches Leben oder einfach für die Wissenschaftler in den Museen. Und deshalb hole ich mir auch in jeder Folge einen der Stiftungs-Historikerinnen oder -Historiker dazu, der oder die mir dann ein bisschen was erzählt zu dem Ausstellungsstück der jeweiligen Folge. Genug erklärt, fangen wir an – und zwar mit dem VW-Bulli, der in der Ausstellung in Bonn steht. Der ist im Museum geparkt, so in etwa zwischen dem Mondgestein und der Grenzstation zur DDR. Zeitlich gesehen sind wir da in den 1960er – 70er Jahren und dementsprechend ist der Bus auch richtig bunt angemalt: Mit einer lachsfarbenen, altrosanen Grundierung und darauf ganz viele Blumen und Sterne gemalt, vorne ist über die komplette Front ein Regenbogen und hinten, auf der Rückseite, ist eine große Sonne gemalt. Innen ist er auch besonders, nämlich mit einem abgehängten, total bunten Stoffhimmel und an der Seite sind Holzverkleidungen angebracht und an den Fenstern künstliche Hanfpflanzen als Gardinen. Und die Rückbank, die fehlt auch, und stattdessen ist da eine Liegefläche aus Holz. Und die wurde tatsächlich auch genutzt – wie, das kann uns Julia Schuppe erzählen, sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stiftung Haus der Geschichte. Hallo Frau Schuppe.
Schuppe: Hallo Frau Rosenplänter.
Rosenplänter: Warum steht im Haus der Geschichte ausgerechnet ein VW-Transporter für das Hippie-Lebensgefühl der 1960er Jahre?
Schuppe: Ja, die 1960er Jahre sind ja ein ganz spezielles Jahrzehnt, voller Umbrüche, voller Neuerungen, sozial, aber auch im kulturellen Bereich, die auch noch bis in die 1970er hineinreichen. Und viele Menschen in Deutschland damals, und auch in anderen Ländern, wollen eben in dieser Zeit mehr individuelle Selbstbestimmung, mehr gesellschaftliche Teilhabe. Vor allem eben junge Menschen wollen hierarchische Strukturen abbauen, stellen bisherige Politik in Frage. Und sie wollen neue Erfahrungen sammeln, sie wollen auch teilweise aus ihrem familiären oder sozialen Umfeld ausbrechen und sie wollen eben Neues entdecken. Und der VW-T1, so heißt dieses Modell, oder eben auch Bulli genannt, ist eben zu einem Symbol für gerade diese Aufbruchsstimmung und für diesen Wunsch nach Selbstbestimmung geworden. Denn dieser Bulli ist eigentlich verbunden mit dem Reisefieber, das viele Menschen damals in den 1960er und 70er Jahren gepackt hat. Viele junge Menschen damals reisen durch ganz Deutschland, reisen durch Europa, reisen auch durch die ganze Welt, auf unterschiedliche Arten: Manche mit dem Rucksack, per Anhalter, andere mit einem Interrail-Pass, also mit dem Zug. Und viele zieht es eben auch in die Ferne und da zum Beispiel auf die sogenannten Hippie-Trails, von Istanbul nach Nepal oder nach Indien. Und genau für solche Reisen war der VW-Bulli ideal.
Rosenplänter: Warum war der dafür ideal? Hat das auch technische Gründe?
Schuppe: In der Produktion war er noch nicht perfekt dafür ausgelegt, aber, so wie wir das auch im Haus der Geschichte sehen können, kann er eben zur rollenden Unterkunft umgebaut werden. Er ist sehr geräumig, sodass eben mehrere Personen auch darin schlafen können. Das sehen wir heute ja auch wieder, diesen Trend gibt es ja wieder, dass Menschen solche oder ähnliche Autos kaufen, umbauen und damit dann eben auf Reisen gehen.
Rosenplänter: Dieser Bulli, der jetzt hier im Haus der Geschichte steht, wo ist der in seinem früheren Leben überall gewesen?
Schuppe: Dieser Bulli ist 1966 gebaut worden und dann in die USA exportiert worden. Wir wissen leider nicht, wer ihn dort gefahren hat und wir wissen auch nicht so ganz genau, welche Strecken er dort in den USA oder vielleicht auch außerhalb der Vereinigten Staaten zurückgelegt hat, aber wir wissen, dass er in Kalifornien war, der Geburtsstätte der Flower-Power-, der Hippie-Bewegung. Und wir wissen, dass er 1975 so schön bunt angemalt wurde, wie wir in heute auch noch sehen können. Er ist dann 2008 zurückgekehrt nach Europa und kurz danach konnten wir den Bulli für unsere Sammlung und eben auch unsere Ausstellung hier im Haus gewinnen. Und seitdem ist er tatsächlich ein sehr beliebtes Objekt in unserer Ausstellung, das viele Besucher anzieht und fasziniert.
Rosenplänter: Die Gardinen, die der bei uns hat, das sind künstliche Hanfpflanzen, weil Drogen in der Zeit für viele eine große Rolle gespielt haben?
Schuppe: Ja, genau. Also die Gardinen sind natürlich aus künstlichen Hanfpflanzen bei uns, das ist ganz wichtig. Und ja, Drogenkonsum spielt in dieser Zeit eine Rolle, aber nicht nur Drogen, sondern grundsätzlich unangepasstes Verhalten, Lebensgenuss, auch Kleidung und Frisuren sind alles Zeichen eines Wertewandels und Aufbrechens von Rollenerwartungen. Also, zum Beispiel, Männer tragen in dieser Zeit lange Haare und Vollbärte, Frauen tragen Hosen und generell wurde die Kleidung vieler Menschen in dieser Zeit, vieler junger Menschen vor allem, lässiger. Kleidungsstücke wurden geflickt, wurden selbstgemacht, wurden umgenäht, wurden gefärbt. Also dieser typische Hippie-Look, den wir heute noch kennen, der entstand eben in dieser Zeit. Und für viele Menschen sind es eben diese äußeren Zeichen, die auch mit einer Art Aufbegehren zu tun haben.
Rosenplänter: Das heißt, die Jugend hat revoltiert gegen die Elterngeneration?
Schuppe: Ja, das kann man so sagen. Die 1960er Jahre sind auch ganz stark mit einem Generationenkonflikt verbunden. Solche Werte wie Ordnung und Fleiß und Zuverlässigkeit, die für die Elterngeneration, die ältere Generation, wichtig sind, werden von vielen jungen Menschen in dieser Zeit eher als spießig und als eng empfunden. Und viele junge Menschen wollen nun anders leben als ihre Eltern. Sie wollen sich selbst, sie wollen ihre Umwelt, sie wollen eben auch andere Länder entdecken und deshalb reisen sie. Und da wären wir wieder bei unserem Bulli.
Rosenplänter: Und wie kam es, dass dieser Generationenkonflikt ausgerechnet zu dieser Zeit war?
Schuppe: Die Bundesrepublik lässt in dieser Zeit langsam die Nachkriegszeit hinter sich und der wirtschaftliche Aufschwung, den es schon seit den 1950er Jahren gab, ermöglichte vielen Bürgern in der Bundesrepublik ganz neue Handlungsspielräume. Also mit einem zunehmenden Massenwohlstand veränderten sich auch Werte und Lebensweisen. Zum Beispiel Frauen emanzipierten sich immer mehr, mit der Anti-Baby-Pille kam es auch zu einer sexuellen Revolution, auch Mode wurde freizügiger, Werbung und Zeitschriften haben immer mehr nackte Haut gezeigt. Gleichzeitig verlieren zum Beispiel Kirchen in dieser Zeit an Einfluss. Und eine ganz wichtige Rolle hat eben auch das Fernsehen gespielt, das immer verbreiteter wurde und das eben den Menschen vor dem Bildschirm Einblicke in Lebenswelten verschafft hat, ins Ausland, auch in fremde Kulturen, die sie vorher so nicht kannten oder so nicht sehen konnten. Und auch eben dadurch, durch das Fernsehen und durch diese neuen Impulse, wird auch eine internationale Jugendkultur befördert in der Zeit, die eben auch diesen Generationenkonflikt heraufbeschworen hat, zumindest gefördert hat. Und die anti-bürgerliche Haltung, die viele Jugendliche damals an sich hatten, ich habe es ja schon beschrieben: die langen Haare, die lässige Kleidung, und eben diese Lebensmodelle von Hippies, von Aussteigern, von Künstlern, von Kommunenmitgliedern, die waren natürlich auch vielen der Elterngeneration ein Dorn im Auge.
Rosenplänter: Und zu diesem Generationenkonflikt und dem ‚Revoltieren gegen die Eltern‘ hat ja auch die Musik gehört.
Schuppe: Genau. Das Thema Musik ist ganz, ganz eng verbunden in den 1960er Jahren mit dieser Entwicklung. Und vor allem die jungen Menschen beschäftigen sich mit Ideen, mit kulturellen Impulsen, auch aus anderen Ländern. Vor allem aus Großbritannien und den USA. Und das Fernsehen und das Radio machen das eben immer mehr möglich in dieser Zeit. Und eine besondere Entwicklung war zum Beispiel, dass Musiksendungen, die sich an junge Leute gerichtet haben, zunehmend internationale Band präsentiert haben, die, für uns heute absolut selbstverständlich, auf Englisch gesungen haben. Und da war zum Beispiel der berühmte Beat-Club, der von Radio Bremen ab 1965 ausgestrahlt wurde, eben ein Vorreiter, den kannte jeder und den hat damals diese Jugendbewegung eben geschaut. Und so hat die Musik in den 1960er Jahren eben auch Identität gestiftet und auch Menschen über nationale Grenzen miteinander verbunden. Und auch das, was wir an dieser Zeit schätzen, wie wir an diese Zeit zurückdenken, ist immer ganz stark mit Musik verbunden. Uns fällt zum Beispiel sofort dieses legendäre Woodstock-Festival in den USA ein, wenn wir an die 60er Jahre denken, bei dem solche Größen wie Janis Joplin, The Who, Jimi Hendrix aufgetreten sind und das ist natürlich für uns auch immer noch eine spannende Erinnerung an die 60er Jahre.
Rosenplänter: Sie haben eben schon die USA angesprochen, als Ort, wo die Musik herkam, aber es war ja auch eben politisch viel los in den USA in der Zeit und das ist dann ja auch, zumindest so ein bisschen, zu uns rüber geschwappt.
Schuppe: Genau. Die USA befanden sich damals im sogenannten Vietnam-Krieg, der eben von der eigenen Bevölkerung sehr kritisch gesehen wurde – oder zunehmend von vielen Bevölkerungsteilen kritisch gesehen wurde, sodass da eben eine Friedensbewegung entstanden ist, also eine Opposition gegen den Vietnam-Krieg, die eben auch eng verbunden war mit der ganzen Flower-Power-Bewegung, über die wir schon gesprochen haben. Und tatsächlich hat die Studentenbewegung in Deutschland, die es in der Zeit auch gab, dass eben aufgenommen, hat sich solidarisiert mit der Friedensbewegung in den USA. Also auch auf deutschen Straßen hat man gegen den Vietnamkrieg protestiert. Ursprünglich entstand diese Studentenbewegung aus einer Kritik am bisherigen Hochschulsystem. Also Studenten haben Reformen gefordert, in Forschung und in Lehre und in der Hochschulorganisation. Aber diese Bewegung hat sich ausgeweitet und eben auch mehr Demokratisierung in Staat und Gesellschaft gefordert.
Rosenplänter: Jetzt sind wir also vom VW-Bulli und der Hippiezeit über Woodstock bis zu der 68-er Generation gekommen. Ein großer Bogen – danke Julia Schuppe!
Schuppe: Danke schön Frau Rosenplänter!
Rosenplänter: In der nächsten Folge des Museumspodcasts sprechen wir dann über ein Teil, was wahrscheinlich viele von uns in irgendeiner Art zu Hause haben – nämlich über eine Videokamera. Und über die Montagsdemonstrationen in Leipzig. Bis dahin Euch eine schöne Zeit! Ciao.
Meike Rosenplänter, Moderation
Julia Schuppe, wissenschaftliche Mitarbeiterin
1968 - Rebellion auf Rädern