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Enver Şimşek ist das erste Opfer der rechtsextremen Terrororganisation "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU). Er wird 2000 in Nürnberg erschossen. Jahrelang wird in die falsche Richtung ermittelt. Erst 2011 werden die Täter gefunden, durch Zufall. In unserer Ausstellung erinnert eine Gebetskette an Şimşek.Rosenplänter: Herzlich willkommen zu diesem Museumspodcast. Mein Name ist Meike Rosenplänter und ich nehme euch wieder mit ins Haus der Geschichte in Bonn. Über die roten Wände in der Dauerausstellung haben wir ja schon in einem früheren Museumspodcast gesprochen, heute geht es jetzt um die schwarzen Wände und deren Bedeutung. Die seht ihr deutlich seltener in der Ausstellung, zum Glück, denn diese schwarzen Wände, die tauchen immer dann in der Ausstellung auf, wenn es um Rechtsextremismus und Fremdenhass in Deutschland geht. Zum Beispiel relativ am Ende der Ausstellung, da ist eine Vitrine für verschiedene rechtsradikale und rechtsextreme Anschläge in den 1990er, 2000er Jahren. Unter anderem wird da an den im Jahr 2000 erinnert, als der türkische Blumenhändler Enver Şimşek in Nürnberg erschossen wird. Von ihm wird in der Vitrine eine Gebetskette ausgestellt, die er überall mit hingenommen hat. Und über die, über seine Geschichte und über die Hintergründe der Tat spreche ich mit Lisa Kemle, sie ist Volontärin in der Stiftung. Hallo Frau Kemle.
Kemle: Hallo.
Rosenplänter: Enver Şimşek war Blumenhändler und stand an diesem 9. September eigentlich nur an seinem Blumenstand in Nürnberg, oder?
Kemle: Genau, wobei allein das eigentlich schon relativ außergewöhnlich war, dass er selbst dort stand. Enver Şimşek hatte nämlich, nachdem er nach Deutschland kam, eine ziemliche Karriere als Selfmade-Man hingelegt und er kam erst 1985 nach Deutschland, um seiner Frau zu folgen, die schon länger in Deutschland lebte und hat als erstes in einer Fabrik gearbeitet. Er kam aus Isparta, einer Provinz in der Türkei, die für ihre Rosen bekannt ist und hatte auch selber eine große Leidenschaft für Rosen und Blumen generell und wollte sehr gerne Blumenhändler werden. Er hat sich deshalb zeigen lassen, wie man Blumengestecke eigentlich überhaupt macht und hat nach seinen Schichten in der Fabrik abends im Keller angefangen, selbst Blumengestecke zu binden und hat die dann am Wochenende am Straßenrand verkauft. Und das lief so gut, dass er dann ziemlich schnell in den Blumengroßhandel einsteigen konnte, seine ersten Mitarbeiter anstellen konnte, seinen Fabrikjob an den Nagel gehängt hat und von da an hauptsächlich seine eigenen Läden und die mobilen Mitarbeiter beliefert hat.
Rosenplänter: Und wie war das dann an dem Tag, als er erschossen wurde?
Kemle: An diesem Tag hätte eigentlich einer seiner Mitarbeiter eben auch wieder in Nürnberg stehen sollen, hatte allerdings drei Wochen Urlaub und Şimşek hat ihn dann selbst vertreten. Er stand also an seinem Transporter, Şimşek Blumenhandel stand darauf und man hat im Nachhinein rekonstruiert, dass sich ihm zwei Männer genähert haben und diese Männer schießen auf Şimşek, er fällt in seinen Transporter, wird achtmal getroffen von Kugeln, allein dreimal in den Kopf, die Männer entfernen sich einfach wieder und er wird erst Stunden später wieder aufgefunden von der Polizei, dann ins Krankenhaus gebracht und stirbt dort aber nach zwei Tagen, ohne noch einmal aus seinem Koma zu erwachen und hinterlässt dann seine Frau und zwei Kinder.
Rosenplänter: In der Vitrine, die an die Opfer erinnert, liegt eine Gebetskette von Enver Şimşek. Warum ausgerechnet die?
Kemle: Das ist eine gute Frage. Mit Blick auf die NSU kann man ja ganz viele unterschiedliche Objekte, hätten wir in der Sammlung, die wir eigentlich zeigen könnten. Fahndungsplakate, Flyer von Opferinitiativen, Theaterstücke, die sich damit auseinandersetzen, aber die Familie von Enver Şimşek hat uns eine ganze Reihe von Objekten aus seinem persönlichen Leben hinterlassen. Das sind einmal ganz viele Sachen rund um seinen Blumenhandel, also Materialien und Werkzeuge, aber eben auch diese Gebetskette. Und diese Gebetskette ist ein relativ starkes Objekt, da sie mehrere Geschichten eigentlich zeigt und mehrere Dinge aufzeigt. Zum einen ist sie ein Zeichen seines Glaubens. Enver Şimşek war Muslim, lange Zeit nicht unbedingt strenggläubig, hat mit seiner Frau aber 1998 noch eine Pilgerfahrt nach Mekka gemacht, was ihr ein ganz großes Anliegen, ein ganz großer Wunsch war und ab dieser Zeit hat er sich relativ penibel an die Gebetszeiten gehalten, hatte dann seinen Gebetsteppich und seine Kette immer dabei, im Transporter zum Beispiel, oder auch am Blumenstand und hat regelmäßig gebetet. Und diese Kette soll jetzt eben zeigen als Objekt, dass er vom NSU getötet wurde, einfach aufgrund seiner Herkunft, seines Glaubens, seines Aussehens, also Dinge, die vom NSU als fremd und nicht zugehörig beschrieben wurden und die nicht dementsprechend was der NSU als deutsch verstand. Ganz wichtig an der Kette ist aber auch, dass sie die Sicht der Betroffenen aufzeigt, also dass sie Enver Şimşek als Menschen wahrnimmt. Viele Menschen kennen die Gesichter und die Namen der NSU-Mitglieder, aber gerade auch die Opfer und ihre Betroffenen müssen gehört werden, ihre Geschichten müssen natürlich auch erzählt werden. Und das ist auch eine Forderung, die man jetzt gerade wieder ganz oft sieht, wenn man zum Beispiel nach Hanau schaut und dem rassistischen Anschlag dort vom 19. Februar. Ganz viele Betroffenen und Initiativen immer sagen, say their names, also sagt ihre Namen, um so dem Vergessen entgegenzuwirken.
Rosenplänter: Aber wenn ich mich richtig erinnere, wurde die NSU da gar nicht so schnell mit in Verbindung gebracht, sondern es hat eigentlich relativ lange gedauert, bis die Polizei die richtige Spur gefunden hatte, oder?
Kemle: Genau, die Polizei hat sich sehr schnell auf Familie und Umfeld erstmal eingeschossen. Wenn wir uns daran erinnern, Enver Şimşek lag zwei Tage im Krankenhaus. Am ersten Tag war seine Tochter alleine dort bei ihm im Zimmer, weil ihre Mutter schon sieben Stunden verhört wurde von der Polizei und sie und ihr Bruder relativ schnell verdächtigt wurden, ihren Mann aus Eifersucht oder Habgier ermordet zu haben. Der Transporter der Familie wurde dann verwanzt, über zehn Monate hinweg wurde die Witwe abgehört, auch in ihrer Wohnung und auch ihre Wohnung und die Geschäftsräume wurden durchsucht. Es hat sich dann gezeigt, dass sich keine Spur in diese Richtung ergab und da er aber ja regelmäßig als Blumenhändler zu Blumenbörse Niederlande gefahren war, hat man gedacht, vielleicht hat er Drogen geschmuggelt. Die Kripo Nürnberg hatte mal einen Auftritt in der Sendung Aktenzeichen XY im April 2001 und der Beamte sagte da, es gibt ein ganz breites Spektrum von Motiven, von der Beziehungstat bis zur, er nannte es Blumenhändler-Konkurrenz, könnte alles als Motiv in Frage kommen, auch Streitigkeiten in der organisierten Kriminalität seien als Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Rosenplänter: Aber rechtsextreme Hintergründe waren gar nicht im Gespräch.
Kemle: Rechte Hintergründe, obwohl die Familien sie immer wieder anbrachten, wurden schnell wieder weggeschoben. Es wurde gesagt, dass Bekennerschreiben fehlen würden und man muss auch sagen, dass eine deutliche Prägung der Polizei auch relativ schnell klar wurde. In den elf Monaten, nachdem Şimşek ermordet wurde, wurden drei weitere türkeistämmige Männer mit der gleichen Waffe, einer Ceska 83 und so einer mit einer ähnlichen Vorgehensweise ermordet. Zwischen 2004 und 2006 wurden noch mal vier türkeistämmige und ein griechistämmiger Mann wieder mit der gleichen Waffe, gleiche Vorgehensweise ermordet. Und trotzdem wurden die rechten Hintergründe immer weiter weggeschoben. Die Polizei gründete Sonderkommissionen mit dem Namen Sonderkommission Bosporus oder Halbmond, das ist ja schon klar anzeigt, man schaute nur in die türkischen Communities eigentlich und es fielen Begriffe wie Türkenmafia oder ähnliches.
Rosenplänter: Das heißt, die Familie des Opfers musste aber in der Zeit richtig viel durchmachen.
Kemle: Genau, die Familien litten sehr stark unter diesen einseitigen polizeilichen Ermittlungen und diesen ständigen Verdächtigungen, die ja immer weiter auch in der Öffentlichkeit gestreut wurden. Der Sohn von Enver Şimşek, Abdulkerim, hat das so beschrieben, dass immer neue Gerüchte in der Zeitung standen und die Leute irgendwann anfangen, das zu glauben. Und durch diese ständigen polizeilichen Verdächtigungen fühlte er sich in Deutschland irgendwann wie ein Mensch zweiter Klasse, obwohl er selbst auch in Deutschland geboren war, aber er fühlte sich immer weiter entfremdet von dieser deutschen Gesellschaft und hatte einen ganz anderen Blick auf einmal auf das Land und die Gesellschaft. Die Familien ahnten ja relativ schnell, dass es einen rechtsextremen Hintergrund geben könnte, vor allem als sich die Morde dann gehäuft haben. Und nach dem neunten Mord in Kassel fanden Proteste und Trauerkundgebungen statt, bei denen die Familien wirklich mit Bildern ihrer erschossenen Väter und Ehemännern durch die Straßen gelaufen sind und einem riesigen Transparent auf dem stand, kein zehnter Mord, wurden allerdings nicht wirklich gehört. Wenn wir uns daran erinnern, die Medien hatten ja oftmals dann, nachdem zwei Männer in dieser Reihe getötet wurden, die in Imbissen gearbeitet hatten, diesen Begriff Dönermorde geprägt, der von den Familien wie Semiya, das mal nannte, rassistisch und zynisch empfunden wurde und aufgrund seiner Sprache, die ja die Menschen klar ausgrenzt, einfach aufgrund von plumpen Klischees und Stereotypen abwertet, weswegen der Begriff 2011 auch zum Unwort des Jahres ernannt wurde.
Rosenplänter: Und 2011 sind dann die Ermittler auch endlich der NSU auf die Spur gekommen, aber wegen einem komplett anderen Delikt, die haben nämlich eine Bank ausgeraubt.
Kemle: Genau, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben am 4. November 2011 morgens in Eisenach eine Sparkasse ausgeraubt. Der NSU, der nationalsozialistische Untergrund, war ja zu diesem Zeitpunkt ja bereits seit 14 Jahren im Untergrund. Um sich zu finanzieren, haben sie regelmäßig Banken ausgeraubt. Man geht momentan davon aus, dass mindestens 15 Banküberfälle auf das Konto des NSU gehen. Die beiden versuchen also auch an diesem Morgen in Eisenach eine Bank auszurauben und erbeuten tatsächlich 70.000 Euro. Flüchten, wie sie es die 14 Mal zuvor auch schon getan haben mit ihren Fahrrädern, zu einem nahegelegenen Wohnmobil, dass sie ihre Fahrräder einpacken und schnell wegfahren, werden dabei allerdings von einem Rentner beobachtet, woraufhin die Polizei ganz Eisenach relativ schnell absperrt. Die Polizei findet das Wohnmobil dann in einem Wohngebiet in Eisenach. Als sie sich nähern, hören sie auf einmal Schüsse und das Wohnmobil geht in Flammen auf.
Rosenplänter: Das heißt, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos haben sich vor ihrer Festnahme selbst umgebracht, dann ist aber Beate Zschäpe wegen der Morde des NSU verurteilt worden. Wie passt die in diese ganze Geschichte rein?
Kemle: Beate Zschäpe war in der Regel bei den Taten des NSU selbst nicht dabei, aber ist immer in den Wohnungen geblieben und hat quasi mit den Nachbarn Schwätzchen gehalten, hat da die bürgerliche Fassade aufrecht erhalten. Und sie war dafür zuständig, wenn das Ganze schief geht, auch Bekennervideos rauszuschicken und so die Taten des NSU überhaupt erst mal publik zu machen. Und deswegen kommt es dann auch so, dass sie an diesem 4. November, als die beiden sich eben selbst umbringen nach diesem misslungenen Banküberfall, die Wohnung in die Luft jagt, selbst flüchtet und die Beamten finden dann die Tatwaffe und dieses Bekennervideo, in dem die Comic-Figur Paulchen Panther auf ganz zynische Weise sich über die Opfer lustig macht und auch über die Ermittlungsarbeiten der Polizei. Beate Zschäpe flieht dann und stellt sich vier Tage später der Polizei.
Rosenplänter: Und dann beginnt der Prozess gegen sie?
Kemle: Genau, 2013 beginnt der Prozess gegen Beate Zschäpe, erst mal nur auf zwei Jahre angesetzt. Wie wir jetzt alle aus der Rückschau wissen, soll es über fünf Jahre dauern, bis dann wirklich das Urteil gesprochen wird. Im Nachhinein finden sich auch immer ganz viele Superlative, die diesen Prozess beschreiben. Der wichtigste, größte, kostspieligste Prozess seit der Wiedervereinigung. Beate Zschäpe wird zu lebenslanger Haft verurteilt aufgrund ihrer Mithäterschaft. Ihre Mitangeklagten bekommen relativ milde Haftstrafen.
Rosenplänter: Und es gab aber dann noch ein Netzwerk im Hintergrund oder haben die wirklich alleine gehandelt?
Kemle: Das ist bis heute eine große Streitfrage, die auch dazu führt, dass die Angehörigen vom Urteil und dem ganzen Prozess im Nachhinein sehr enttäuscht sind. Am Anfang gab es große Hoffnungen, dass man wirklich eine lückenlose Aufklärung bekommt, dass die vielen Fragen, warum genau ihre Väter und ihre Ehemänner sterben mussten, eventuell beantwortet werden. Der Prozess fokussiert sich aber ganz stark auf Zschäpe und auf die vier Mitangeklagten. Gerade jetzt im April 2020 wurde ja auch das schriftliche Urteil vorgelegt, das wieder zu ziemlich viel Konflikt führte. Viele Anwälte der Nebenankläger haben in einem offenen Brief dieses Urteil als ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats bezeichnet. Ein Rechtsstaat, der zuerst die Angehörigen kriminalisiert und dann ihre Fragen nicht aufdeckt. Und die fehlerhafte Polizeiarbeit, die Fehler des Verfassungsschutzes und diese ganzen rechten Strukturen eigentlich, also sie benutzen das Wort totschweigt, also diese rechten Strukturen kaum beleuchtet. Die Angehörigen selbst kommen in diesem schriftlichen Urteil, das 3025 Seiten umfasst, mit keinem einzigen Satz vor. Ihr Leid wird überhaupt nicht thematisiert.
Rosenplänter: Es gibt ja auch Gedenkorte, an denen an alle Opfer des NSU erinnert wird, zum Beispiel auch am Tatort in Nürnberg, da wurde eine Stele errichtet. Und auch in Zwickau, da war ja eine Wohnung vom NSU. Da wurde eine Eiche gepflanzt. Aber diese Orte werden immer wieder geschändet.
Kemle: Das wiederholt sich leider ständig. Diese Eiche wurde erst im September 2019 gepflanzt und nicht mal einen Monat später wurde sie einfach abgesägt. Die Stadt Zwickau hat dann sehr schnell reagiert und eine Bank aufstellen lassen mit Inschriften, die an die Opfer erinnern sollte. Freitags aufgestellt, Sonntags war sie schon wieder zerstört. Also es gibt auch Recherchen, dass in fünf der acht Anschlagsorten Gedenksteine zum Beispiel mit Bitumenmassen übergossen werden, Gedenktafeln wurden einfach entwendet oder mit Hakenkreuzen beschmiert. Das wiederholt sich leider sehr regelmäßig. In Nürnberg am Tatort gibt es heute drei Dinge, die an Enver Şimşek erinnern. Eine Stele, die Einwohner, die rund um den Tatort wohnen, gespendet haben und errichtet haben. Eine Gedenktafel, die schon mehrmals entwendet wurde und heute deshalb höher hängt, als sie am Anfang gehangen wurde. Und Bäume, die sein Mitarbeiter gepflanzt hat. Der Mitarbeiter, der eigentlich an diesem Tag hätte dort stehen sollen und die heute an Enver Şimşek und seine Liebe zu Pflanzen erinnern sollen.
Rosenplänter: Wir werden also auch in Zukunft zum Beispiel bei einer Erweiterung der Dauerausstellung damit rechnen müssen, weiterhin auch schwarze Wände zu sehen. Danke Lisa Kemler. Im nächsten Museums Podcast werden wir einen Blick in die Anfangszeit der Bundesrepublik werfen, aber auf ein ganz wichtiges Ausstellungsstück, das uns auch bis heute noch begleitet, nämlich auf das deutsche Grundgesetz. Euch bis dahin eine schöne Woche. Bis dann.
Meike Rosenplänter, Moderation
Lisa Kemle, Volontärin
2000 - Rassistischer Mord